Anfang November 2024 habe ich für Mitarbeitende der Telefonseelsorge ein Fortbildungsseminar zum Thema „Bindungs- und Entwicklungstrauma & traumasensible Kommunikation“ gegeben. Mit anderthalb Tagen hatte ich ganz gut Zeit, das Thema trotz seiner Komplexität recht umfassend zu vermitteln und so, dass die Teilnehmenden für sich ein praktisches Verständnis mitnehmen konnten. Das Thema wurde mit großem Interesse, reger Beteiligung und vielen Aha-Momenten dankbar aufgenommen.
Am Freitag ging es zunächst um die Frage, was wir unter Trauma verstehen und welche Rolle das Autonome Nervensystem laut der Polyvagaltheorie dabei spielt. Im szenischen Spiel stellten die Teilnehmenden in Kleingruppen die vier Zustände des Autonomen Nervensystems Erstarrung, Kampf, Flucht und Sicherheit/ soziale Verbundenheit sehr anschaulich dar. Den Abend ausklingen ließen wir mit dem gemeinsamen Singen des Lieds „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Auch zur Stimulation des ventralen Vagus. ; )
Am Samstag ging es vormittags weiter mit Möglichkeiten der Selbstregulation. Dies natürlich auch für die Arbeit am Telefon: Wichtigkeit eines regulierten Nervensystems für das eigene Erleben und für die Co-Regulation der Anrufenden und ggf. als konkrete Anregung/Anleitung für Anrufende. Im Anschluss gab ich eine Einführung in das Thema Bindungskonflikt und Kindheitstrauma. Hier entstand ein sehr angeregter Austausch, u.a. auch zu der Situation heutiger Kinder und junger Eltern, aber auch zum eigenen Erleben der Traumafolgen. Thema war auch die Vision einer traumabewussten Gesellschaft nach Gabor Maté.
«Vielleicht ist alles Erschreckende in seiner tiefsten Essenz ein Hilfloses, das unserer Liebe bedarf.»
Rainer Maria Rilke
Nach dem Mittagessen ging es weiter mit den Notlösungen für den kindlichen Bindungskonflikt. Der Bindungskonflikt in der Kindheit beinhaltet, dass das Grundbedürfnis nach Verbindung, welches sowohl zuverlässige Nähe (Gehaltensein, Schutz) wie auch Autonomiebestrebungen (Selbstausdruck, auch emotionaler) beinhaltet, nicht ausreichend erfüllt wurde. Die Notlösung lautet Nähe oder Autonomie: Wir Menschen tendieren entweder zu Verschmelzung (Nähe ohne Autonomie) oder Distanz (Autonomie ohne Nähe), was in nahen Beziehungen wirkliche Verbindung verhindert. Denn wirkliche Verbindung ist Nähe und Autonomie: sowohl mit sich selbst wie mit dem anderen gut in Kontakt zu sein.
Durch ein Erlebnisangebot mit der Konzentrative Bewegungstherapie (KBT) konnten die Teilnehmenden sich selbst erfahren in ihrer Art zu sein und anderen zu begegnen, insbesondere mit Fokus auf Verunsicherungen und automatisierte Schutzmechanismen. Unter anderem ging es in einer Partnerübung darum, der Erfahrung einer sich öffnenden und einer sich schließenden Geste nachzuspüren und all den Empfindungen während der langsamen Bewegung von der einen zur anderen Geste.
Im letzten Block am Samstag ging es dann noch um die traumasensible Kommunikation nach Satya Marchand und das Ehrliche Mitteilen nach Gopal Norbert Klein. Beides zielt darauf ab, wirklich miteinander in Kontakt zu kommen, unsere „Masken“ abzunehmen, uns wirklich zu zeigen und uns mit anderen zu verbinden – auch zur Heilung des Bindungstraumas. Dies hat natürlich große Relevanz auch am Telefon.
Mit der Einführung in das Ehrliche Mitteilen (EM) hatte ich bereits am Freitag und und am Samstagmorgen bei den Entspannungsübungen begonnen, bei denen ich das Spüren und dann auch das Mitteilen des Körpererlebens mit den Formulierungen des EM angeregt hatte. Nun erläuterte ich das genaue Vorgehen beim Ehrlichen Mitteilen und machte es auch einmal vor der Gruppe vor. Es bestand großes Interesse, diese Selbsthilfemethode in der Partnerschaft oder in einer Lokalen Gruppe auszuprobieren.
Es gab viel positives Feedback zum Thema der Fortbildung, der Art der Vermittlung und der sicheren und annehmenden Atmosphäre. Zum Abschluss gab ich den Teilnehmenden noch ein Rilke-Wort mit auf den Weg:
«(…) und ich möchte Sie, so gut ich es kann bitten, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben, wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie jetzt nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antworten hinein.»
Rainer Maria Rilke